Im Temeswarer Stadtteil Fabrikstadt Chopinstraße 1, steht ein außergewöhnliches Architektur- und Industriedenkmal: das als “Turbinen” bezeichnete Wasserkraftwerk an der Bega.
Karl Schlögel schätzt dieses Werk in dem Essay „Wunder des Gleichzeitigen. Der Jugendstil – Glücksmoment eines hoffnungsvolleren Europa“ als „unglaublich“ ein: „Jugendstil ist Zerbrechlichkeit und Stärke, kraftvolles Ausholen und Reflexivität. Er gehört zu den glücklichsten Momenten der jüngeren europäischen Geschichte. Er zeugt von der Ingeniosität und dem Reichtum der „Welt von gestern“, wie sie Stefan Zweig beschrieben hat“. [Schlögel]
Simina Stan geht in ihrem Architektur-Post „Turbinele Timișoarei“ (Die Turbinen Temeswars) auf die Stimmung dieses Bauwerks ein: „Der vertikale Rhythmus vermittelt den Eindruck von Leichtigkeit und die Illusion der Schwerelosigkeit über dem Wasser“ und „durch die vertikale Ausdruckskraft des Turms, der reinen, weißen Wände mit Beobachtung-Terrassen und dem Wasser kann das Wasserkraftwerk wie eine Festung erscheinen“. [Stan]
Der Jugendstil behauptete sich im Zuge eines umfassenden stadtweiten urbanistischen Wandels, in Folge der Aufhebung des Festungsstatuts im Jahre 1892 und einer regen wirtschaftlichen Entwicklung.
1902
Bürgermeister der Stadt war von 1885 bis 1914 Karl Telbisz. Durch seine Tatkraft und Weitsicht hatte er ausschlaggebende Bedeutung für die Entwicklung Temeswars zu einer modernen Stadt, dem west- und mitteleuropäischen Weltstandard entsprechend.
Der fähige städtische Oberingenieur Emil Szilárd erarbeitet das umfangreiche Projekt der Bega-Regulierung und der Anlage der „Turbinen“. Laut diesem Projekt sollte die verteilte Wasserkraft auf einen Ort konzentriert werden, um den elektrischen Strom an die Mühlen, aber auch an andere Unternehmen und an die Lichtzentrale zu verteilen.
1907
6. Dezember
Start der Durchführung des Projekts der Bega-Regulierung und Baubeginn des Wasserkraftwerks „Turbinen“, nach den Plänen des wohl wichtigsten Stadtarchitekten László Székely, 1877–1934.
Der Architekt folgte dem Motto William Morris‘: „Kunst in allem. Kunst und Industrie werden zusammenarbeiten und alles wird geadelt“, deshalb wählte er für dieses Projekt einen einfachen Ausdruck der 1900er Architektur, dekorative Geometrie, ohne gewundene Volumen.
Nichts biegt, schraubt, schwillt oder verdreht sich, vielleicht weil dieses Gebäude eine technische Funktion zu erfüllen hatte. Das Wasserkraftwerksgebäude erfüllte alle Bedürfnisse dieser Zeit, sowohl in Bezug auf Technik, Baustoffe und Ästhetik. [Stan]
1910
3. Mai
Nach der Beendung der Bega-Regulierung, wird das Wasserkraftwerk „Turbinen“ in Betrieb genommen.
Das verstellbare Stahlplattenwehr hat eine Stauhöhe von 5,6 Metern bei einem Durchlauf von 36 Kubikmeter Wasser je Sekunde.
Drei horizontale Francis-Turbinen von je 485 kW (660 PS) treiben zweiphasige Generatoren von je 2,2 kV, 125 A, (550 kVA) mit 166,6 U/min an. Die Maschinen wurden von Budapester Firmen gebaut: die Turbinen von „Ganz Danubius“ und die Generatoren von „Elektrische Anlagen Ganz AG“, (Ganz-féle Villamossági R.-T.).
Schon im ersten Betriebsjahr erzeugte das Wasserkraftwerk 89 % der in der Stadt benötigten Energie.
1912
November
Bei der Turbinenanlage lag gleich hinter dem Stauwehr ein beliebtes Volksbad, auch Großer Strand genannt. Es war eine schöne Anlage mit Gaststätte und Bootsverleih.
1930
Erste Reparatur.
2004
Eigentümer: COLTERM SA Timişoara, in der Zuständigkeit der Stadt Temeswarer.
2017
10. Dezember
Die Anlage wird für den Tourismus geöffnet.
Die Industriegebäude der Stadt an der Bega sind ebenso wichtig wie die Befestigungsanlagen, Paläste, Kirchen und Banken. Der kommunale Schlachthof, die Brauerei, die Hutfabrik sind nur einige Beispiele. Es ist eines der glücklichen Beispiele für den Erhalt und Nutzung einer Einrichtung, die seit 1910 noch heute in Betrieb ist. [Stan]
Bibliographie:
COLTERM SA Timişoara:
https://www.colterm.ro/despre-noi/prezentarea-societatii/
Geml, Josef: Alt-Temesvar im letzten Halbjahrhundert 1870-1920, Banat Verlag Erding 2010
Schlögel, Karl: Wunder des Gleichzeitigen. Der Jugendstil – Glücksmoment eines hoffnungsvolleren Europa, Lettre International, Heft 56, I/2002
Stan, Simina: Turbinele Timişoarei,
http://arhitectura-1906.ro/2011/08/turbinele-timisoarei/
Weber, Richard: Temeswarer Chronik, Karlsruhe 2009. Manuskript von seiner Tochter Dr. Isolde Weber. Veröffentlicht in der Banater Bibliothek 19, Hrsg. Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V., München 2019
Alte Ansichtskarten: aus den Sammlungen von Erhard A. Berwanger, Helga Korodi und Richard Weber
Aktuelle Photos: Erhard A. Berwanger.